Rückzug, Konflikte, Gefühlschaos: Die Pubertät fordert Eltern heraus. Wie man Halt gibt, ohne zu klammern, erklärt Psychotherapeutin Annette Cina im Interview.

Dr. phil. Annette Cina
Eidgenössisch anerkannte Psychotherapeutin, Fachpsychologien für Psychotherapie, Verhaltenstherapeutin und Supervisorin.
Frau Cina, was passiert in der Pubertät in Körper und Gehirn?
Die Adoleszenz ist ein biologischer Entwicklungsprozess. In dieser Zeit finden grosse hormonelle Veränderungen statt, der Körper verändert sich massiv. Es geht um die Transformation von einem kindlichen zu einem erwachsenen Körper. Gleichzeitig läuft eine tiefgreifende Umstrukturierung des Denkens ab. Dieser Prozess dauert länger, als viele glauben.
Also länger als die klassischen Teenager-Jahre?
Ja. Die Reifung des Gehirns dauert etwa bis zum 25. Lebensjahr. Dessen sollten sich Eltern bewusst sein. Auch wenn Jugendliche zum Teil schon sehr unabhängig und selbstständig wirken, sind sie auf ihre Unterstützung angewiesen.
Viele Eltern erleben massive Stimmungsschwankungen der Teenager. Woher kommen diese?
Die Hormone spielen verrückt. Das führt dazu, dass Jugendliche viel impulsiver reagieren – Emotionen werden in dieser Phase oft als überwältigend erlebt. Die Heranwachsenden fühlen sich übermannt von ihren Gefühlen und wissen schlichtweg nicht, wie sie damit umgehen sollen.
Viele Jugendliche reagieren dann mit Rückzug oder Trotz.
Solche Reaktionen bedeuten: «Ich teile dir nicht mehr mit, was ich denke oder tue.» Das liegt daran, dass viele Jugendliche ihre Autonomie entwickeln wollen. Für die Jungen ist das eine schwierige Phase. Sie möchten nicht mehr pfannenfertige Lösungen von Eltern oder Lehrpersonen, sie wollen selbstständig denken, entscheiden und handeln. Bewertungen oder Kritik sind nicht erwünscht, da sie dem Gefühl der Selbstständigkeit entgegenstehen. Diese Abgrenzung verunsichert viele Eltern – und oft reagieren sie mit Kontrolle. Das wiederum führt zu Widerstand, Diskussionen und Konflikten.
Wie können Eltern ihre Kinder unterstützen?
Eltern dürfen in schwierigen Momenten zeigen, dass sie verletzt sind – entscheidend ist ein positiver Grundton und dass die Kommunikation bestehen bleibt. Man darf die eigene Sichtweise klarmachen, sollte aber auch Diskussionen zulassen. Kontrolle ist nicht das Ziel, Eltern sollten viel mehr wie ein Leuchtturm sein: präsent, verlässlich und orientierend – insbesondere in stürmischen Zeiten.
Was fördert Offenheit und Vertrauen?
Wichtig sind aktives Zuhören und echtes Interesse. Wie wir Erwachsenen reagieren auch Jugendliche gereizt auf ständige Kritik und Besserwisserei. Das führt zu Rückzug. Wer seinen Kindern ehrlich zuhört und sie ermutigt, stärkt die Gesprächsbereitschaft. Am meisten zählen liebevolle Bestätigung und klare Worte wie: «Du machst das super» oder «Ich habe dich sehr fest lieb».
In solchen Gesprächen geht es ja oftmals um eine Balance zwischen Vertrauen und klaren Grenzen.
Genau. Vertrauen bedeutet nicht, dass keine Grenzen gesetzt werden müssen. Das Jugendalter ist und bleibt eine Risikophase. In dieser Zeit ist der Drang nach Autonomie gross, auch wenn die Jugendlichen vieles noch nicht können. Das heisst zum Beispiel, dass sie riskante oder gefährliche Situationen noch nicht richtig einschätzen können. In dieser Zeit brauchen sie Begleitung. Dass es hierbei auch mal zu Konflikten kommt, ist unvermeidbar.
Wie können Eltern Vertrauen zeigen, ohne sich zu stark zurückzuziehen?
Einfach alles durchgehen zu lassen, ist der falsche Weg. Vertrauen bedeutet: Ich begleite dich – und lasse dich irgendwann auch gehen. Gleichzeitig signalisiert man seinen Kindern, dass sie jederzeit zu einem zurückkommen können, wenn etwas schiefläuft. Und das wird passieren. Das ist übrigens ein Punkt, den ich oft mit Eltern und mit Lehrpersonen diskutiere. Es gibt keine Strategie, die garantiert, dass in diesen Jahren alles rundläuft.
Apropos Vertrauen und Kontrolle: Wie viel Beaufsichtigung ist im Umgang mit digitalen Medien sinnvoll?
Hier gelten ähnliche Herausforderungen wie beim Umgang mit Alkohol: Vieles hängt vom Umfeld ab – und nicht alles lässt sich kontrollieren. Wichtig ist, ob ein Kind reif genug ist. Man setzt ja auch kein Kleinkind aufs Dreirad, wenn es noch nicht treten kann. Das Gehirn von Jugendlichen reagiert stark lustgesteuert und soziale Medien bergen erwiesenermassen ein hohes Suchtpotenzial. Viele überschätzen, was Jugendliche bereits verarbeiten können – oft sind wir diesbezüglich zu blauäugig.
Sind klare Grenzen hier demnach besonders wichtig?
Natürlich ist es schwierig, Jugendlichen medienfreie Zeiten zuzumuten – zumal Schulen zunehmend digital arbeiten und Hausaufgaben sowie Kommunikation oft ebenfalls online laufen. Umso wichtiger ist es, klar zu erklären, warum solche Pausen nötig sind. Sie sind wichtig, damit das Gehirn zur Ruhe kommt und nicht ständig Reizen ausgesetzt ist. Reine Verbote bringen jedoch wenig.
Zum Abschluss nochmals zu den Eltern: Was kann man tun, um während turbulenter Familienzeiten selbst stabil zu bleiben?
Ich empfehle einen regelmässigen Austausch mit Eltern, die ähnliche Herausforderungen haben. Das gibt einem das Gefühl, dass man sich verstanden fühlt und nicht alleine ist. Auch soziale Kontakte ausserhalb der Familie tun gut – sie erinnern uns daran, dass wir als eigenständige Person existieren. Wenn die eigene Energie nicht mehr reicht, sollte man sich rechtzeitig professionelle Hilfe holen – etwa durch eine psychotherapeutische Begleitung.