Wenn Kinder nachts ins Bett machen, ist das für die betroffenen Kinder und ihre Eltern oft eine grosse Belastung. Kinderärztin Alessandra Reichlin erklärt, was helfen kann – und weshalb Geduld so wichtig ist.

Dr. med. Alessandra Reichlin
Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin
Alessandra Reichlin, was genau versteht man unter Bettnässen?
Wenn ein Kind nachts ungewollt Urin verliert, sprechen wir in der Fachsprache von Enuresis nocturna – also Bettnässen. Kommt das Problem auch tagsüber vor, spricht man von Inkontinenz. Zudem unterscheiden wir zwischen Kindern, die noch nie trocken waren (primäre Enuresis), und solchen, die nach einer trockenen Phase wieder einnässen (sekundäre Enuresis).
Ab wann gelten Kinder als «trocken»?
Die meisten Kinder sind mit sechs bis sieben Jahren nachts trocken. Natürlich gibt es individuelle Unterschiede, beispielsweise sind Buben grundsätzlich eher später trocken als Mädchen. Wenn es zum Zeitpunkt des Schuleintritts noch nicht klappt, sollte man gegebenenfalls genauer hinschauen und dies beim Kinderarzt ansprechen.
Wie häufig kommt Bettnässen überhaupt vor?
Sehr häufig – ich erlebe das in meiner Praxis regelmässig. Eltern sind oft erleichtert, wenn sie hören, dass ihr Kind mit dem Problem nicht allein ist. Da mit dem Thema so viel Scham verbunden ist, wird im Alltag leider kaum darüber gesprochen.
Welche körperlichen Ursachen können eine Rolle spielen?
Bei gewissen organischen Erkrankungen wie einem offenen Rücken tritt das Einnässen meist auch tagsüber auf. Ein weiterer Risikofaktor ist ADHS: Kinder mit dieser Diagnose werden oft später trocken. Auch Verstopfung kann ein Faktor sein. Ebenso kann eine unerkannte Zuckerkrankheit dahinterstecken.
Und welchen Einfluss haben Stress oder familiäre Belastungen?
Stress ist besonders bei der sekundären Form ein grosser Auslöser. Es kommt oft vor, dass Kinder nach einer Trennung der Eltern, einem Umzug oder einem Schicksalsschlag wieder einnässen. Kinder verarbeiten solche Belastungen oft über körperliche Reaktionen.
Wie sollten Eltern mit dem Thema umgehen?
Das Wichtigste ist: keinen Druck machen. Strafen bringen gar nichts – im Gegenteil. Wenn ein Kind nachts einnässt, macht es das ja nicht absichtlich. Scham ist ein grosses Thema, deshalb können auch Vergleiche mit anderen Kindern oder Sprüche von Dritten sehr verletzend sein. Hilfreich sind praktische Unterstützungen wie Nachtpants oder spezielle Bettbezüge; dadurch entsteht sowohl für Eltern wie auch für das Kind weniger Stress.
Was können Eltern sonst noch konkret tun?
Ermuntern Sie Ihr Kind, tagsüber genug zu trinken – dadurch lernt die Blase, was «voll» und «leer» bedeutet. Abends sollte nicht mehr viel getrunken werden, eine Stunde vor dem Zubettgehen am besten gar nichts mehr. Vor dem Schlafengehen sollte das Kind unbedingt aufs WC. Manche Eltern wecken ihr Kind später nochmals, bevor sie selbst schlafen gehen. Bei jüngeren Kindern kann es auch sinnvoll sein, sie bei der Reinigung oder dem Wechsel der Bettwäsche mithelfen zu lassen und dadurch den Willen, trocken zu werden, zu stärken.
Was raten Sie bei Schulreisen oder Übernachtungen ausser Haus?
Solche Situationen sind für betroffene Kinder oft besonders belastend. Wichtig ist, offen mit dem Kind zu sprechen und ihm zu zeigen, dass es nicht allein ist mit seinem Problem. Je nach Situation sollte auch die Schule oder die Gastfamilie informiert werden. Bei jüngeren Kindern sind Nachtpants eine gute Lösung, im Teenageralter braucht es mehr Fingerspitzengefühl.
Wann braucht es Medikamente?
Bei jüngeren Kindern setze ich keine Medikamente ein, da reichen meist Windeln beziehungsweise Nachtpants. In der Oberstufe kann man in Einzelfällen Medikamente einsetzen, die den Harndrang unterdrücken – zum Beispiel im Ferienlager. Wichtig: Die Medikamente dürfen nur genommen werden, wenn danach nichts mehr getrunken wird. Ich verschreibe sie auch deshalb nur mit Vorsicht.
Gibt es alternative Methoden?
Meist geht es um Aufklärung, Geduld und Entlastung. Physiotherapie kann in Einzelfällen hilfreich sein, etwa zur Stärkung des Beckenbodens. Das betrifft jedoch eher die Inkontinenz als das klassische Bettnässen.
Wächst sich das Problem mit der Zeit aus?
In den meisten Fällen ja. Oft gibt es keine organische Ursache. Interessanterweise betrifft das Problem häufiger Kinder, deren Eltern selbst spät trocken wurden.
Und was, wenn das Problem bis in die Pubertät anhält?
Dann sollte man nochmals abklären, ob vielleicht doch ADHS oder eine andere Ursache vorliegt. Bei Unsicherheit ist es sinnvoll, eine Spezialistin oder einen Spezialisten beizuziehen.
Dr. med. Alessandra Reichlin ist Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin und führt seit 2018 ihre eigene Praxis in Schwyz. Seit 2012 liegt ihr beruflicher Fokus auf der Kinder- und Jugendmedizin. Neben der allgemeinen Kinder- und Jugendmedizin führt Alessandra Reichlin eine kinder- und jugendgynäkologische Sprechstunde und besitzt den Fähigkeitsausweis in Hüftsonografie.
Zwei Formen, verschiedene Ursachen
Primäre Enuresis: Das Kind war nachts noch nie richtig trocken. Oft ist die Blasenkontrolle einfach noch nicht ausgereift. Es handelt sich um die häufigere Form des Bettnässens. Viele Kinder «wachsen» im Lauf der Entwicklung von selbst daraus heraus. Geduld, Entlastung und einfache Massnahmen reichen oft aus.
Sekundäre Enuresis: Das Kind war bereits trocken und nässt plötzlich wieder ein. Häufig steht dies in Zusammenhang mit seelischen Belastungen: etwa einem Umzug, der Trennung der Eltern oder anderen Veränderungen im familiären Umfeld. Hier lohnt sich eine besonders einfühlsame Begleitung – das Kind signalisiert über den Körper, dass etwas nicht im Gleichgewicht ist.