Resilienz

Ratgeber / Kind & Familie

Wie man Kinder seelisch stärkt

25.10.2022 / von 

Resilienz heisst die menschliche Fähigkeit, sich von Krisen zu erholen. Wie Eltern dies ihren Kindern mit auf den Weg geben und wie man als Familie schwierige Zeiten durchsteht, erklärt der Psychologe Fabian Grolimund.

Fabian Grolimund
Man sollte Krisen nicht vom Kind fernhalten, sondern offen sein und Fragen beantworten.

Fabian Grolimund

Psychologe und Leiter der Akademie für Lerncoaching in Zürich

Herr Grolimund, von Resilienz ist heute oft die Rede, wenn es ums Aufwachsen geht. Wie erklären Sie diesen Begriff einem Kind?

Stell dir einen Gummiball vor, den ich zusammendrücke. Wenn ich loslasse, springt er in seine ursprüngliche Form zurück. Auf Menschen bezogen bedeutet dies, dass sie sich von Krisen erholen und wieder ins Gleichgewicht kommen können.

Ist diese Fähigkeit zur inneren Stärke und Widerstandsfähigkeit angeboren?

In der frühen Forschung sah man Resilienz als Eigenschaft, über die ein Kind verfügt oder eben nicht. Berühmt ist eine Langzeitstudie der amerikanischen Psychologin Emmy Werner, die Kinder aus schwierigsten Verhältnissen – etwa chronische Armut oder psychische Erkrankungen der Eltern – untersuchte. Ein Drittel von ihnen kam gut damit zurecht. Man nahm also an, diese Kinder seien von ihrer Persönlichkeit her «unverwüstlich». Heute weiss man, dass es komplexer ist.

Heisst das, Resilienz lässt sich erlernen?

Sie entsteht aus einer Wechselwirkung zwischen genetischen Faktoren – etwa dem Temperament des Kindes – und äusseren Einflüssen. Dazu zählt, welche Qualität von Beziehungen ein Kind erlebt.

Hier kommen die Eltern ins Spiel. Wie können sie ihrem Kind einen Startvorteil in seiner seelischen Entwicklung geben?

Zentral ist eine frühe sichere Bindung. Das beginnt im Säuglingsalter, indem Eltern prompt und feinfühlig auf die Signale ihres Kindes reagieren. So erlebt sich das Kind als selbstwirksam: Es entwickelt Vertrauen ins eigene Handeln. Leider geistern immer noch Aussagen herum wie «Das Baby schreien zu lassen, ist gut für seine Lungen». Eine solche Gewöhnung ist definitiv nicht hilfreich.

Und wenn das Kind älter wird?

Dann braucht es immer noch den sicheren Hafen bei seinen Eltern – aber auch zunehmend Freiräume, um sich auszuprobieren. Kleinkinder suchen Momente, die ihnen ein bisschen Angst machen: hoch hinaufklettern, schnell fahren, eine gruselige Geschichte hören. Eltern, die überbehütend sind und immer gleich eingreifen, tun ihrem Kind keinen Gefallen: Sie stehlen ihm die wichtige Erfahrung, selbst mit der Umwelt zurechtzukommen.

Spätestens im Schulalter erleben Kinder, dass von ihnen Leistung erwartet wird, dass sie bewertet werden.

Ja, und manche überfordert das. Dann ist wichtig, dass Eltern ihrem Kind – so gut es geht – vermitteln: Wir lieben dich, nicht weil du gut in der Schule, sportlich oder gehorsam bist, sondern wir lieben dich so, wie du bist. Wenn ein Kind hingegen die Erfahrung macht, dass Wertschätzung an Bedingungen geknüpft ist, schadet dies seinem Selbstwertgefühl.

Dass Kinder Frust und Misserfolg erleben, lässt sich nicht vermeiden. Wie lehrt man sie, damit zurechtzukommen?

Die goldene Regel bei einem enttäuschten Kind, das zum Beispiel mit einer schlechten Note aus der Schule kommt, lautet: sich zuerst um die Gefühle kümmern, dann um die Lösung. In einem Seminar mit Eltern von Kindern mit Rechenschwäche hörte ich ein schönes Beispiel. Eine Mutter erzählte, dass sie jeden Tag zehn Minuten mit ihrer Tochter übt. Bringt das Kind eine genügende Note heim, gehen sie eine Sieger-Glace essen. Und wenn es eine schlechte Note gab? Dann essen sie zusammen eine Trost-Glace.

Also lieber erst den Frust auffangen als gleich wieder Mathe büffeln?

Genau.

Wir leben in unsicheren Zeiten: Klimawandel, Krieg in Europa, Corona-Pandemie. Wie geht man innerhalb der Familie am besten damit um?

Man soll diese Krisen nicht vom Kind fernhalten, sie ihm aber auch nicht aufdrängen. Zum Ukraine-Krieg bekommen Kinder auf dem Pausenplatz einiges mit. Die Eltern sollen offen sein und Fragen beantworten, wenn welche auftauchen. Das Tempo gibt das Kind vor.

Gerade beim Klimawandel geht vielen Jugendlichen alles zu langsam.

Ja, und sie fühlen sich unverstanden von den Erwachsenen. Was hier hilfreich sein kann: weniger auf das Globale fokussieren, sondern auf den eigenen Einflussbereich. Eltern können ihre Teenager-Kinder etwa darin unterstützen, sich im Dorf politisch zu engagieren. Studien zeigen: Jugendliche, die nur schon eine Stunde pro Woche für die Gemeinschaft aktiv sind, haben ein geringeres Risiko für Suchtprobleme, sind schulisch besser unterwegs und zeigen mehr Verantwortungsgefühl.

Manche Krise trifft mitten in eine Familie, wie die Scheidung der Eltern oder ein Todesfall. Welche Auffangmöglichkeiten gibt es da?

Dem Kind zutrauen, seine Trauer zu bewältigen. Schnell einen neuen Hamster kaufen, damit das Kind gar nicht merkt, dass der alte gestorben ist – das geht nicht. Als Eltern gilt es auszuhalten, dass das Kind erfährt, der Tod ist Teil des Lebens. Bei einer Scheidung wiederum zählt, dass man dem Kind aufzeigt, was sich im Zusammenleben verändert und was gleich bleibt – nämlich, dass beide weiterhin seine Eltern sind. Auch im Schmerz einer Trennung sind Vater und Mutter verantwortlich dafür, zu den Bindungen des Kindes Sorge zu tragen.

Zur Person

Fabian Grolimund ist Psychologe und leitet seit 2013 zusammen mit Stefanie Rietzler die Akademie für Lerncoaching in Zürich. Zuvor war er Lehrbeauftragter an der Universität Freiburg. Er ist Autor mehrerer Bücher, unter anderem «Geborgen, mutig, frei – Wie Kinder zu innerer Stärke finden» (Herder, 2019) sowie des Kinderbuchs «Jaron auf den Spuren des Glücks» (Hogrefe, 2022). Grolimund ist verheiratet und Vater von zwei Kindern. Er lebt mit seiner Familie in Freiburg.