Ist ein Elternteil alkoholabhängig, ist das eine grosse Belastung für die ganze Familie. Psychotherapeutin Vanessa Brandestini erklärt, wie sich die Sucht auswirkt und wo Betroffene Hilfe finden.
Vanessa Brandestini
Selbstständige Psychotherapeutin in Winterthur. Sie war jahrelang im Suchtbehandlungszentrum Forel Klink in Ellikon an der Thur und im Spital Wattwil in der Entwöhnungstherapie beschäftigt.
Frau Brandestini, ein Glas Wein zum Abendessen oder ein Cüpli an einem Apéro gehören in unserer Gesellschaft zum guten Ton. Wann wird der Genuss zur Sucht?
Es gibt Warnsignale, bei denen man hellhörig werden sollte. Zum Beispiel, wenn eine Person beginnt, allein zu trinken, oder wenn jemand immer wieder sagt «Ich brauche jetzt ein Bier, um runterzukommen». Wird regelmässig Alkohol getrunken, um Stress abzubauen, ist es problematisch.
Was macht man als Partnerin oder Partner, wenn man beim anderen Anzeichen einer beginnenden Abhängigkeit feststellt?
Wenn die Mechanismen einer Sucht noch nicht aktiv sind, ist es eher möglich, mit dem Betroffenen ins Gespräch zu kommen. Man kann eine Bemerkung machen wie «Es fällt mir auf, dass dein Alkoholkonsum eine Regelmässigkeit angenommen hat, und das macht mir Sorgen». Später, wenn die Person in der Abhängigkeit ist, wird es schwieriger.
Inwiefern?
Insbesondere wenn die Abhängigkeit schon seit Längerem besteht, spielen die Betroffenen das Problem häufig herunter. Sie versuchen, das Selbstbild aufrechtzuerhalten, dass alles in Ordnung ist. Zumindest unbewusst wissen sie, dass es schwierig ist, von der Sucht loszukommen. Deshalb möchten sie sich nicht damit auseinandersetzen.
Ab wann spricht man von einer Alkoholabhängigkeit?
Eine Alkoholabhängigkeitserkrankung ist eine psychische Krankheit, die diagnostiziert werden kann. Kriterien einer Sucht sind zum Beispiel ein starkes Verlangen nach Alkohol, Entzugserscheinungen, wenn man keinen bekommt, oder eine Toleranzentwicklung, was bedeutet, dass man immer mehr Alkohol verträgt. Betroffene verlieren zunehmend die Kontrolle über den Konsum.
Welche Auswirkungen hat es auf eine Familie, wenn ein Elternteil süchtig ist?
Die Alkoholabhängigkeit der Mutter oder des Vaters destabilisiert das Familiensystem stark. Die Kinder kommen in Berührung mit einer Welt, die nicht kindgerecht ist und die sie nicht verstehen. Sucht bedeutet, nicht mehr verbindlich sein zu können. Das Kind gerät in einen Loyalitätskonflikt: Es liebt die Eltern und nimmt sie als Vorbild – das ist schlecht vereinbar mit jemandem, der unberechenbar ist, Gefühlsschwankungen hat und vielleicht sogar aggressiv reagiert. Zudem fühlen sich Kinder oft schuldig, wenn es zu Hause nicht gut läuft.
Wie kann der gesunde Elternteil die Kinder unterstützen?
Man kann altersgerecht erklären, was los ist. Dass das Mami oder der Papi nicht böse ist, sondern dass es sich um eine Krankheit handelt. Der gesunde Elternteil kann zudem für Stabilität sorgen, indem er die familiären Strukturen und Rituale aufrechterhält – gemeinsame Mahlzeiten zum Beispiel oder regelmässige Bettzeiten. Langfristig ist das allerdings ein Kraftakt für die gesunde Person.
Kann man der Partnerin oder dem Partner helfen, von der Sucht loszukommen?
Viele Angehörige möchten helfen, indem sie nach aussen den Schein einer intakten Familie wahren, die leeren Weinflaschen entsorgen oder die Schulden abbezahlen. Doch das ist eine Falle: Mit diesem Verhalten unterstützen sie unbewusst die Sucht. Man spricht von einer Co-Abhängigkeit. Oft ändert sich das erst, wenn Angehörige an den Punkt kommen, an dem sie einfach nicht mehr können. Die wichtigste Unterstützung besteht darin, Hilfe zu holen. Es ist eine Überforderung für eine Familie, eine Abhängigkeitserkrankung intern regeln zu wollen.
Wo finden betroffene Familien Hilfe?
Als eine Anlaufstelle empfehle ich die Hausärztin oder den Hausarzt. Diese haben oft ein Vertrauensverhältnis zu ihren Patient*innen und können die Situation einschätzen. In vielen Gemeinden gibt es Suchtfachstellen, an die man sich ebenfalls wenden kann. Zudem bieten das Blaue Kreuz und Entwöhnungskliniken verschiedene Möglichkeiten. An diesen Fachstellen gibt es oftmals auch Angebote für Angehörige und Kinder.
Wie bringt man die alkoholabhängige Person dazu, Hilfe anzunehmen?
Man sucht das Gespräch am besten, wenn er oder sie nüchtern ist. Wichtig ist, dass man den anderen nicht blossstellt. Am besten spricht man von sich: «Mir wird alles zu viel» oder «Wir brauchen Hilfe».
Was tun, wenn die oder der Betroffene nicht einsichtig ist?
Dann würde ich zum Beispiel einen gemeinsamen Termin bei einer Fachperson abmachen und dies mitteilen. Manchmal muss ein Ultimatum ausgesprochen und auch eingehalten werden. In der Praxis habe ich oft erlebt, dass das die einzige Möglichkeit für Angehörige ist, ins Handeln zu kommen.
Besteht die Chance, von einer Sucht wegzukommen?
Auf jeden Fall. Jemand, der seit zwanzig Jahren trinkt, wird aber tendenziell mehr Schwierigkeiten haben als jemand, der erst seit einem Jahr abhängig ist.
Ist Abstinenz die einzige Lösung?
Ich habe wenige gesehen, die es nach langjähriger Sucht geschafft haben, zu einem mässigen und kontrollierten Alkoholkonsum zurückzukehren. Deshalb: Ja, meistens ist Abstinenz die einzige Lösung.
100'000 Kinder leben mit einem alkoholabhängigen Elternteil
Ein Fünftel der Schweizerinnen und Schweizer zeigt einen risikoreichen Alkoholkonsum. Bei 15 Prozent der Bevölkerung handelt es sich um ein punktuelles Betrinken mindestens einmal im Monat, sogenanntes Rauschtrinken. Vier Prozent trinken regelmässig zu viel. Von einem chronisch risikoreichen Konsum spricht man, wenn eine Frau jeden Tag mindestens zwei Stangen Bier, zwei Gläser Wein oder zwei Gläschen Schnaps trinkt. Bei einem Mann ist es die doppelte Menge. Der Übergang von einem problematischen Alkoholkonsum zu einer Abhängigkeit ist fliessend und Menschen reagieren unterschiedlich auf Alkohol. Schätzungen gehen davon aus, dass in der Schweiz rund 100'000 Kinder in alkoholbelasteten Familien aufwachsen.